zu 1) Der Arunachaleswarar-Tempel in Tiruvannamalai gilt als einer der heiligsten Shiva-Tempel Südindiens – ein monumentaler Komplex, durchdrungen von ritueller Symbolik, mythologischer Tiefe und architektonischer Präzision. Betrachtet man ihn aus der Vogelperspektive, so scheint er auf den ersten Blick einem Mandala zu ähneln: konzentrische Prakarams (Umgangskorridore), vier Haupttore in den Himmelsrichtungen, ein Zentrum, das den Garbhagriha – die innerste Kammer mit dem Lingam – beherbergt. Ein Nandi blickt von Westen aus Richtung Heiligtum, und mehrere Hallen, Teiche und Nebenschreine fügen sich in ein scheinbar ausgewogenes Gefüge.
Doch genau dieser Eindruck kann trügen. Denn so sehr der Tempel auf der Grundlage des Vastu-Purusha-Mandalas geplant ist – dem traditionellen Raster heiliger Architektur –, so wenig ist er bloß geometrisch symmetrisch zu denken. Der Tempel lebt. Er ist kein abstraktes Schema, sondern eine Verkörperung. Seine Architektur folgt nicht allein der Ordnung des Maßes, sondern ebenso dem Gesetz der Spannung, der Polarität, der Übergänge. Osten und Westen, Süden und Norden sind nicht gleichwertige Himmelsrichtungen, sondern Träger ganz unterschiedlicher Kräfte und Bedeutungen.
Der Osten etwa, mit seinem monumentalen Rajagopuram, öffnet sich dem Sonnenaufgang – dem Kommen des Lichtes, der Geburt der Formen, dem Aufbruch. Der Süden, traditionell mit Yama, dem Gott des Todes, verbunden, enthält Orte der Reinigung, der Opfer, der Wandlung. Der Westen erscheint als Schattenzone, als Ort der Krise, der Übergabe und des Nichtwissens – oft wird hier der dunkle Aspekt des Göttlichen erfahrbar. Der Norden schließlich steht für Erkenntnis, Kühle, Aufstieg – nicht zufällig befinden sich hier häufig die Lehraspekte Shivas wie Dakshinamurti oder Subrahmanya.
Innerhalb der Prakarams werden diese Richtungen zu Wegstationen einer inneren Reise. Der Gang um das Heiligtum ist nicht bloß ein ritueller Vollzug, sondern ein Abtasten, ein Durchwandern der eigenen seelischen Räume. Der Nandi blickt nicht „neutral“, sondern verweilt in gespannter Beziehung zum Zentrum. Die Seitenschreine sind nicht gleichmäßig verteilt, sondern wie innere Organe: mit Gewichtungen, Unregelmäßigkeiten, Eigenleben. Auch die große Säulenhalle – die sogenannte "Tausend-Säulen-Halle" – befindet sich nicht im Zentrum, sondern seitlich, als Ort der Versammlung, der Begegnung, des Übergangs vom Ich zum Wir.
Was hier deutlich wird: Der Tempel ist kein symmetrisches Mandala, sondern ein verkörpertes. Er folgt keinem euklidischen Ideal, sondern einem rituell-atmenden Rhythmus. So wie der menschliche Körper nicht spiegelsymmetrisch ist, sondern eine lebendige, asymmetrische Ordnung ausbildet, so verhält es sich auch mit dem heiligen Raum. Der Tempel ist Körper – der Körper Shivas, der Körper des Menschen, der Körper der Welt. Und jede Umrundung, jede Geste, jede Blickachse ist Teil einer tiefen Kommunikation zwischen Raum, Gott und Pilger.
zu 2) „Das Selbst ist gleichsam ein Zentrum, nicht nur des Bewusstseins, sondern der ganzen Persönlichkeit, das auch das Unbewusste mit umfasst; es ist ein übergeordnetes Ganzes, das Ich ist ihm untergeordnet.“ (C. G. Jung, Psychologische Typen, GW 6, §788)
C. G. Jung hat das Selbst nicht mit dem bewussten Ich verwechselt. Für ihn ist das Selbst ein umfassenderes Ganzes, das sowohl Bewusstes als auch Unbewusstes integriert. Es ist Zentrum und Umfang zugleich – ein archetypischer Urgrund der Persönlichkeit, der sich im Laufe des Lebens zunehmend offenbaren kann. Das Ich, das reflektiert und handelt, ist ihm untergeordnet – gewissermaßen nur eine Insel im Meer des Selbst.
Das Selbst ist in Jungs Denken zugleich Ziel der Individuation: der inneren Reifung und Ganzwerdung eines Menschen. In diesem Prozess geht es nicht um Kontrolle, sondern um Hinwendung, Zulassen, Integration der Gegensätze, Schattenseiten, archetypischen Kräfte.
Ein solches Selbst ist kein Produkt der Vernunft, sondern ein symbolisches Zentrum – oft bildhaft dargestellt: als Kreis, Mandala, Kreuz, Quaternität, manchmal auch als Kind oder als alter Weiser. Das Selbst ist bei Jung kein statischer Zustand, sondern eine Bewegung auf eine Mitte zu, die größer ist als wir selbst – eine Mitte, die manchmal wie der stille Garbhagriha im Tempel verborgen liegt.
Wenn der Tempel nicht nur Raum ist, sondern Körper – was heißt das für unser Verständnis vom Selbst?
Im westlichen Denken wird das Selbst häufig als geistiger Akt aufgefasst: als das Ich, das sich denkt, sich beobachtet, sich zurücknimmt und reflektiert. In der philosophischen Tradition von Descartes bis Sartre ist das Selbst vor allem ein Bewusstsein seiner selbst – ein innerer Spiegelraum, in dem sich Subjektivität abbildet. Doch gerade wenn diese Spiegelung brüchig wird – etwa durch Krankheit, Trauma, seelische Verlorenheit – zeigt sich, wie unhaltbar diese Engführung ist. Wenn der Spiegel zerspringt, bleibt kein Bild. Kein Selbst?
Die Gefahr einer rein intellektualisierten Selbstauffassung liegt in ihrer Abkopplung vom Leiblichen. Dort, wo keine begriffliche Selbstreflexion mehr möglich ist – im Schmerz, im Begehren, im Erzittern –, scheint das westliche Selbst zu verstummen oder zu versagen. Doch gerade dort, in der Tiefe des Körpers, beginnt eine andere Form von Selbst: ein Selbst, das nicht „weiß, dass es ist“, sondern spürt, dass es lebt.
Was bedeutet es, das Selbst körperlich zu verstehen?
Es heißt, das Selbst nicht als Zentrum der Kontrolle, sondern als Durchgang von Kräften zu erleben. Es ist nicht der „Urheber“ meiner Handlung, sondern der Ort, an dem etwas geschieht: Atem, Druck, Lust, Angst, Empfänglichkeit. Der Leib ist dann kein Objekt, das ich „habe“, sondern der Raum, in dem ich bin – und in dem ich manchmal selbst nur Gast bin.
Ein körperliches Selbst ist verwundbar, durchlässig, rhythmisch. Es ist nicht identisch, sondern vieldimensional – mit Schichten, Reflexen, Erinnerungen, Spannungen. Man kann es nicht „haben“, sondern nur werden.