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Im Dreck, im Staub, im Tempel der Ratten - Ein Essay über das göttliche Unerwartete

Ich stand barfuß im Tempel – nicht aus Mut, sondern weil es erwartet wurde. Karni Mata, irgendwo in Rajasthan. Um mich herum: Hunderte, vielleicht tausende Ratten. Manche fraßen, manche lagen still. Manche rannten über meine Füße. Der Geruch war beißend, der Boden feucht. Und ich, als westlich geprägter Theologe, empfand zunächst nur eines: Ekel.

Aber ich blieb. Vielleicht aus Höflichkeit, vielleicht aus Neugier, vielleicht aus Trotz. Und mit jedem Atemzug – verwirrt, gedämpft, brennend – wich der Ekel einer anderen Regung. Ich begann nicht, die Ratten zu lieben. Aber ich erkannte, dass etwas an meinem Ekel nicht stimmte. Er war ein Reflex, kein Urteil. Und genau in diesem Moment wurde der Ort mir heilig. Nicht schön. Heilig.

Heilig, weil er meine Kategorien zerlegte.

Denn was, wenn Gott nicht nur dort wohnt, wo wir ihn sauber hingestellt haben? Was, wenn das Heilige nicht dort beginnt, wo der Mensch desinfiziert hat, sondern genau dort, wo er sich abwendet?

Wenn Hiob recht hat

Wir haben gelernt, dass man sich vor Gott ducken soll. Ihn nicht anklagen, sondern preisen. Aber Hiob schreit. Hiob flucht. Hiob stellt Gott zur Rede – und bleibt am Leben. Nicht nur das: Gott selbst nennt seine Rede "recht". Nicht die seiner Freunde, die mit theologischer Fassade versuchten, das Leid zu erklären.

Hiob wird nicht gelobt, weil er standhielt – sondern weil er widersprach.

Vielleicht ist das der Moment, in dem die Ratten über den Tempelboden laufen und die saubere Gottesidee zerkratzen. Vielleicht ist das der Sturm, aus dem Gott zu sprechen beginnt: eine göttliche Stimme, nicht in der Idylle, sondern im Aufruhr.

Ich erinnere mich, wie ich dort im Tempel stand. Alles in mir suchte nach einer Grenze – etwas, das sagte: Hier endet das Heilige. Aber sie kam nicht. Stattdessen kam ein Gedanke: Was, wenn Gott genau hier beginnt – im Ekel, im Schrei, im Unpassenden?

Gottesdienst ohne Gott?

Der evangelische Gottesdienst, wie wir ihn Sonntag für Sonntag feiern, hat seine Ordnung. Seine Würde. Seine Texte. Seine Tücher in Violett, Rot, Grün, Weiß. Alles hat seinen Platz, alles seine Zeit. Man darf zweifeln – aber bitte im Kyrie. Man darf klagen – aber bitte nur nach Plan. Die Wut, der Schrei, die Zumutung? Die sind nicht vorgesehen.

Hiob hätte in unseren Liturgien keinen Platz. Die Ratten von Karni Mata sowieso nicht. Und Gott? Gott ist da, gewiss – aber wie ein stiller Ehrengast, dem man höflich zunickt, um ihn nicht zu überfordern.

Ich sage das nicht spöttisch. Ich habe selbst unzählige Gottesdienste gestaltet. Aber ich frage mich heute: Ist das wirklich Begegnung? Oder ist es eine höfliche Vermeidung?

In der Kirchenbank sitzen Menschen mit zerbrochenen Leben. Aber sie müssen ihre Scherben draußen lassen. Drinnen soll es stimmen: der Ton, der Psalm, die Gemeinde. Kein Staub auf dem Altar, kein Sturm im Gebet. Nur ein freundliches "Der Friede Gottes sei mit euch."

Aber was, wenn Gott selbst dieser Friede nicht genügt?

Heilige Kasualien – und das Leben draußen vor der Tür

Taufen, Trauungen, Beerdigungen – nirgendwo zeigt sich das Dilemma der sauberen Liturgie deutlicher als hier. Die Kasualien sind die Berührungspunkte zwischen Kirche und Leben. Aber gerade da, wo es am dreckigsten, chaotischsten, ambivalentesten wäre – da wird besonders glattgezogen.