Gottesdienst in Zeit und Raum
Überlegungen zu einem empirische Zugang des Zeiterlebens in Predigt und Liturgie
Von: Norbert Ammermann, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 7 / 2000
Die Zeit als Fundament seelischer Realität
Folgende These möchte ich hier kurz ausführen: Nicht der Raum, sondern die Zeit ist als Fundament seelischer Realität zu verstehen.1 Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Gesinnungen, Gefühle und Entscheidungen können nicht im Raum lokalisiert werden und können auch nicht als raumdeterminiert, kausal verstanden werden. Sie können nur im Kontext der Dimension der Zeitlichkeit verstanden werden. Das scheint im Widerspruch zu dem uns gegenwärtigen, üblichen naturwissenschaftlichen Weltbild zu stehen, in dem nur das im Raum vorhandene Materielle wirkliche Realität besitzt, während das nur in der Zeit vorfindbare Seelenleben eine solche wirkliche Realität nicht beanspruchen kann. Aber viele Menschen haben in ihrem Alltag eine klare Vorstellung von der Realität der Zeit und versuchen, ihren Erfordernissen entsprechend zu handeln.
Lange Zeit glaubten Psychiatrie und Psychologie sowohl auf den Begriff der Seele als auch auf den der Zeit verzichten zu können. Erst gegenwärtig werden sie sich bewusst, wie sehr sie mit dieser Einstellung einen ganzen Realitätsaspekt ausklammern und ausschalten. Ende des 19. Jahrhunderts griff die Lebensphilosophie, z.B. die Existenzphilosophie Heideggers, die Dimension der Zeit auf mit der Folge, dass viele psychologische Probleme in dieser eine metaphysischeÜberhöhung erfuhren, welche die Psychologie in der naturwissenschaftlichen Einengung ihrer Methodik zu untersuchen vergaß, oder eine Beschäftigung mit ihnen für unter ihrer Würde hielt. Erst im 20. Jahrhundert kam es zu einer
Bewusstmachung der Bedeutung der zeitlichen Dimension. So liest man in einem Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie:»Das Leben ist nicht nur in der Zeit, wie das Unbelebte in der Zeit ist, sondern die Zeit ist im Leben, sie gehört zur Innerlichkeit des Lebens gleichsam als sein Atem und Pulsschlag. Jedes lebendige Gebilde ist selbst Zeit, ist eine sich zeitigende Wirklichkeit. - Das besondere Verhältnis des Lebens zur Zeit liegt darin, dass alles Lebendige seine Zeit hat, dass ihm die Zeit innerlich ist, dass die Zeit durch das Leben hindurchgeht. Das Leben hat seine Wirklichkeit darin, dass es sich zeitigt, es hat innere Zeit«.2
Nun sieht sich gerade die moderne Bewusstseinsforschüng dem Problem der Zeit ganz besonders ausgesetzt. Man ist dort längst von der Auffassung abgerückt, das Phänomen des Bewusstseins könne auf lokale neuronale Operationen
reduktionistisch rückgeführt werden. Vielmehr wird die Besonderheit neuronaler Operationen darin gesehen, dass mittels der Dimension der Zeitlichkeit das Gehirn (fortgeschrittener Entwicklungslinien wie das Gehirn der Primaten wie des Menschen) seine Wahrnehmung zu strukturieren vermag und so das Gewirr phänomenologischer Wahrnehmungen zu ordnen vermag.
Das Bewusstsein eigener Identität liegt dann darin begründet, dass das Subjekt die Zeit nützt, um sich als beständige Wahrnehmung zu konstituieren. Lapidar drückt das ein Neurologe so aus: »Wenn das Gehirn eine Maschine ist, dann ist es sicher eine Zeitmaschine«.3 Obwohl Kant und schon Platon lehren, dass der Mensch die Welt nicht erlebt, wie sie »an sich«,»wirklich« ist, sondern stets nur »Erscheinungen« und »Schattenbilder« aufnimmt, die die persönliche psychische Realität ausmachen, findet diese Wirklichkeit weithin keine wissenschaftliche Anerkennung, da sie sich nicht im Raum abspielt und dort nicht als Materie nachweisbar ist.
Die Dimension der Zeitlichkeit im religiösen Erleben
Der Zeit kommt in religiösen Kontexten eine ganz andere Bedeutung zu. Sie ist dort nicht nur Äon, der die Vergänglichkeit der Welt in ihren Weltaltern ausdrückt und im Extrem Zeitlichkeit als Irrwitzigkeit erscheinen lässt. So vermitteln die Weltalter im Hinduismus mit ihren hunderten von Millionen Jahren und ihrer ewigen Wiederkehr dem Menschen die Absurdität seiner singulären Existenz. Sie ist im Gegensatz dazu auch Kairos, ist das Medium, in dem das Göttliche sich dem Menschen offenbart und der Mensch sich aus seiner Zeitlichkeit als Vergänglichkeit herausgerufen weiß in eine neue Qualität von Zeit.
Diese wird z.B. als Geschichte Gottes mit den Menschen begriffen. Diese geschichtliche Zeit verklammert den
persönlich-biografischen Kontext des singulären Menschen mit dem göttlichen, außerhalb der Zeit stehenden Wesen, das sich
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in der Zeit kundtut und damit die Zeit des Menschen als Werden, als Berufung, als Erlösung, und eben als Geschichte Gottes mit uns Menschen klassifiziert. Aber ein spezifischeres Bewusstsein der Bedeutung der Dimension der Zeit wurde erst mit der Entwicklung des Pietismus möglich, bevor dieses Bewusstsein in die ältere und moderne Psychologie einzog. Denn mit ihmänderte sich der Zeitbegriff im Kontext der Glaubenserfahrung. Vor seiner Zeit war ein Denken in Zeitpunkten, aber nicht Zeitkontinua stärker ausgeprägt. Es gab eine Taufe, die den Startbeginn des Christenlebens markierte und festsetzte. Die orthodoxen, moralischen Richtlinien waren zu befolgen. Das Leben lief auf den Tod hinaus, der den anderen Zeitpunkt eines endgültigen Endes markierte. Die pietistische Betonung des Gedankens der Wiedergeburt durchbrach dieses starre Zeitraster. Von der Bekehrung bis zum Erlebnis der Wiedergeburt konnten Jahre, aber auch nur Tage vergehen; und diese Zeiten waren ausgefüllt mit einem heißen Ringen um das Widerfahrnis der Wiedergeburt, welches den Beistand durch Predigt, Seelsorge, Sakrament voraussetzte. Aber in ihnen wurde die Beziehung entscheidender als der sakramentale Aspekt.4 Folge war, dass die individuelle Zukunft nicht mehr als determiniert, sondern als offen erlebt wurde. In der Erbauungsliteratur wurde das Leben als eine Pilgerreise5 verstanden, auf der jeder sich sicher dünkende Christ verloren gehen, und jeder sich verloren glaubende Mensch als von Gott gerettet erfahren kann.
Die Dimension der Zeitlichkeit im gemeindlichen Kontext
Heutzutage ist das Bewusstein gewachsen, dass die Zeit bei jedem Menschen das Seelenleben regelt. Auf der biologischen Ebene wirkt sie als Rhythmus, auf der sozialen Ebene als Tagesablauf. Ihre Struktur kann ernsthaft durchbrochen werden: In der Krankheit findet sich der Mensch nicht nur ans Bett gefesselt, sondern vermag seine Zeit nur noch begrenzt selbst zu regeln. Wo der Zeitsinn versagt, finden wir ernsthafte psychische Störungen vor. Das Sterben wird auch mit den Worten umschrieben, dass der Mensch keine Zeit mehr habe. Zeit zu haben heißt umgekehrt, im Leben und nicht im Tode zu stehen. Und mitten im Leben vom Tode umfangen zu sein heißt dann, dass meine Zeit abrupt ihr Ende finden kann.