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Shiva und Jesus – Berührungen im Staub
In der Religionsgeschichte wird häufig Krishna mit Christus verglichen – mitunter allein wegen der klanglichen Nähe der Namen. Doch diese Verbindung ist oberflächlich: Die übliche Lichtgestalt, der liebenswürdige Retter, der in den Ritualwelten residiert. Eine tiefere Resonanz lässt sich hingegen zwischen Shiva und Jesus finden – im Staub der menschlichen Randgebiete. Beide agieren nicht aus Palästen, sondern zwischen Unberührbaren, zerrissenen Leben und dem Gestank der Marginalität. Ihre Göttlichkeit zeigt sich dort, wo sie den Boden des Alltäglichen berühren.
Der Ort des Geschehens
Jesus begibt sich zu den Ausgegrenzten: Aussätzige, Zöllner, Ehebrecher, Besessene – Menschen, die gesellschaftlich „unclean“ und tabuisiert sind. Ein prägnantes Beispiel: In Matthäus 8,1–4 spricht ein Aussätziger: „Wenn du willst, kannst du mich reinigen.“ Jesus streckt die Hand aus und berührt ihn – was nach dem jüdischen Reinheitsgesetz verboten war – und heilt ihn sofort. Damit bricht er sowohl das Tabu der Berührung als auch die gesellschaftliche Isolation.
Shiva residiert am Rande: in Verbrennungsstätten, im Rauch toter Körper, in Nähe von Geistern, Asche und Dämonen. Er zeigt sich dort, wo alles verglüht – und wo Gesellschaft und Regeln verfallen. Diese Landschaft ist sogar sein symbolischer „Wohnort“, weil sie die ultimative Gleichheit und Nacktheit der Existenz repräsentiert.
Begegnung durch Berührung
Jesus berührt Unberührbare – und wird durch seine Berührungen selbst „unrein“, zumindest nach menschlicher Wahrnehmung. Doch diese Unreinheit wird durch heilende Liebe ersetzt: Er „infiziert“ den Kranken nicht mit seinem Tod, sondern mit dem Leben.
Shiva wiederum ist verkörpert in der Asche, im Tod – und berührt dadurch metaphysisch jeden, der hinschaut. Er umfasst die komplette Polarität: Trance, Zerstörung, Tod – und lächelt all dem ins Angesicht, statt sich abzuwenden. Seine Berührung ist nicht körperlich, sondern existenziell, man könnte sagen: aschig, aber heilig.
Das Göttliche im Tun – nicht im Sprechen
Bei Jesus dominieren nicht abstrakte Lehren, sondern tätige Liebe: Heilung, Speisung, Einladung zur Teilnahme. Er bricht Reinheitsgebote mit einem anderen Gesetz – dem der bedingungslosen Zuwendung.
Shiva lehrt nicht mit Worten, sondern durch Sein. Er tanzt (Nataraja), sitzt in Asche, zerstört Illusionen (Maya) und ist zugleich frei von Ego. Er zeigt, statt zu erklären.
Zyklus von Tod und Wiederkehr
Jesus stirbt am Kreuz und steht auf – nicht als machtvoller Herrscher, sondern als durchbohrter Mensch. Seine Rückkehr verändert Geschichte und Zeit.
Shiva stirbt symbolisch ständig – in Meditation, Asche, Tantram, Zerstörung all dessen, was Illusion ist. Er ist Zyklus, nicht Linearität: immer Tod, Erlösung, Vision – und Tod. Seine „Wiederkehr“ ist unsichtbar, verborgen, im Geistigen spürbar.
Entgrenzung des Selbst
Jesus identifiziert sich mit dem „Ich bin“ – ohne Titel, Amt oder Rolle. Er lebt als Mensch und zugleich als Präsenz.
Shiva ist Jäger und Asket, Zerstörer und Liebhaber – aber in allen Rollen übersteigt er sie. Er ist jenseits jeder Verortung: er sprengt das Selbst in ein universelles Bewusstsein.
Fazit – die Linie im Staub
Bei Shiva und Jesus wird das Göttliche dort greifbar, wo man es nicht erwartet. Shiva sitzt in der Asche, wo Staub zu Asche wird – und lässt uns spüren, dass Transzendenz auch in der Zerstörung beginnt. Jesus kniet nieder, berührt den Scheiterten – und macht durch Liebe das Reich Gottes sichtbar, nicht durch Macht.
Ihr gemeinsamer Faden: Nicht die Reinheit, sondern die Liebe zur Verworfenheit. Nicht isolierte Heiligkeit, sondern präzise Berührung am tiefsten Punkt menschlichen Zerfalls. Nicht Verkündigung, sondern Existenz – im Dreck, im Zweifel, aber mit unbedingter Zuwendung.