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1) Einstieg

Wie spricht man darüber, wenn Erfahrungen tiefer reichen als jedes Wort? Wenn z.B. ein Mensch mit 68 Jahren plötzlich spürt, dass er Jahr­zehnte nicht gelebt, sondern überlebt hat? Wenn nicht ein Ereig­nis, son­dern eine Struktur in die Knie zwingt?

Der Zusammenbruch kam nicht als Katastrophe, sondern als Verstum­men. In drei Ehekonflikten zeigte sich: Nicht der Erwachsene re­agierte, sondern ein zutiefst verletztes inneres Kind. Was folgt, ist ein innerer Ab­sturz. Aber keiner, der zerstört. Sondern einer, der das System neu star­tet. Im Bild: Das Ich fällt auf BIOS zurück. Alles Frü­here wird infrage ge­stellt.

Dabei wird spürbar, was lange verborgen war: emotionale Vernachlässi­gung und körperlich erlittene Übergriffe im frühesten Kin­desalter, ver­mutlich im ersten Lebensjahr. Der Körper erinnert. Und eine Kusi­ne be­stätigt intuitiv: "Ich kann das Wort Säugling kaum ausspre­chen, wenn ich an Dich denke."

Für die Seelsorge bedeutet das: Sprache reicht nicht. Theologie reicht nicht. Und auch professionelle Haltungen stoßen an Grenzen, wenn das Gegenüber nicht Orientierung, sondern einen sicheren Kör­per braucht.

Einmal lag der Mann über eine Stunde schweigend in den Armen ei­ner professionellen Berührungsbegleiterin. Keine Therapie, kein Ritu­al. Nur Dasein. Eine Regression, die nicht infantil war, sondern not­wendig. Da­nach begann langsam ein Wandel.

Der Mann verliert 18 Kilogramm an Gewicht. Das Interesse an den „klei­nen Freuden des Lebens“ erlischt schlagartig. Die Sexualität kehrt zu­rück, nicht ge­trieben, sondern wach. Es ist kei­ne Erlösung, aber ein Si­gnal: Etwas lebt, das vorher geschwiegen hat.

Der Prozess gleicht einer Schamanenreise: nicht geplant, nicht gesucht, sondern wie ein Sturz in die Unterwelt. Dort erscheinen die verdrängten Gestalten der Kindheit, die Schatten des eigenen Körpers, die Narben einer nicht erzählten Geschichte. Was wie ein Zusammenbruch wirkt, wird in dieser Perspektive zum Durchgang – ein Abstieg, der nicht beim Trauma endet, sondern eine Schwelle öffnet. Der Schamane ist nicht Held, sondern Verwundeter, der sich von Kräften führen lässt, die größer sind als sein Ich. In dieser Bewegung wird Seelsorge selbst schama­nisch: Sie begleitet nicht als Wissende, sondern als Zeugin einer Trans­formation, die aus Schmerz und Schweigen eine neue Sprache des Lei­bes hervorbringt.

2) Seelsorge im BIOS

Seelsorge in solchen Fällen bedeutet nicht, Antworten zu geben. Son­dern einen Spiegel zu halten. Einen Raum zu bieten, in dem kein Urteil geschieht. Und eine Sprache zu riskieren, die nicht vorgibt, zu wissen. Was bedeutet hier das BIOS? Es ist tatsächlich der Compu­tersprache entlehnt: BIOS - hier nicht griech. Leben, sondern Basic In­put Output System - bedeutet in der Sprache der Traumata-Be­handlung die Erfah­rung, dass Lebens-Zusammenhänge, personale Bin­dungen, soziale Ver­netzungen buchstäblich unwirklich erscheinen und als nicht mehr zuge­hörig erlebt werden – so wie ein PC, der über keine formatierte, ge­schweige denn mit Programmen gefüllte Fest­platte mehr verfügt, son­dern nur noch der sich selbst blinkende Cur­sor auf dem „Blue Screen“ ist. Außenstehende oder Angehörige erle­ben das als völligen Rückzug oder völlige Verfremdung des Betroffe­nen, der in der Tat soziale Kontak­te nicht aktiv abbricht, sondern ein­fach nicht mehr in Resonanz verfällt und geht – Apathie pur. Sprache trägt nicht mehr, wenn Traumata auf­brechen, die im vorsprachlichen Bereich der frühesten Kindheit liegen. Wenn sie noch Resonanz findet, wird sie als Bildsprache zumeist be­drohlich assoziiert; so löst bei­spielsweise die Bildsprache von Gott als liebendem Vater oder gar liebender Mutter tiefste Abwehr und Ekel aus.

Vielleicht ist genau dann Seelsorge im ursprünglichsten Sinn gefor­dert: Dass einer in der Sprachlosigkeit bleibt – und dennoch nicht geht.

Raum ist nicht nur ein Ort, sondern eine Qualität: Atmosphäre, Offen­heit, Schweigen, leibliche Präsenz. Halt gebend wird er, wenn er von Er­wartungen entlastet, von diesen frei ist.1

Zeit ist nicht Takt oder Kalender, sondern Rhythmus: ein Tempo, das sich nach dem Menschen richtet, nicht nach der Institution.

Wenn Sprache versagt, ist Präsenz keine „zweite Wahl“, sondern das Primäre: Gottesbeziehung selbst ist oft schweigend, unaufdringlich.

Theologisch: Die „Sprachlosigkeit Gottes am Kreuz“ ist der Archetyp seelsorglicher Präsenz. Und im kleineren Format sind es die Freunde Hiobs, die schweigend bei ihm hocken.